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Interview: Über das Wesen der App

Ich freue mich sehr, heute das Interview mit Karolina Schilling, Autorin des Buches “Apps machen - Der Kompaktkurs für Designer“ vorstellen zu können. Wir bekommen einen lebendigen Einblick in ihre Denkweise und ihre Erfahrungen mit App-Konzeption und Kunden.

RS: In Deinem Buch Apps machen bearbeitest Du das Thema Appdesign sehr stark auf konzeptioneller und weniger auf technischer Ebene als andere Bücher. Was hat Dich dazu gebracht und woher kam das ganze Material und die Inspiration?

KS: Genau, mir ist aufgefallen, dass es viele Bücher zur Programmierung von Apps gab, aber keines, das einem erklärt, wie man das Produkt, das Wesen der App, erschafft. Ich konnte oft beobachten wie auf Kundenseite etwas nicht zu Ende gedacht wurde und auf der Entwicklerseite bemängelt wurde, dass es keine Screens zur Bedienung der App gibt, sondern lediglich die technische Konzeption, beispielsweise, wann sich die App welche Daten vom Server holt. Diese Fokussierung auf die technische Umsetzung ohne überhaupt nur einmal darüber nachzudenken, wie sich der Nutzer auf den Screens bewegt, ist für mich etwas sehr Altes, etwas Ingenieurmäßiges. Doch heute geht es nicht mehr nur darum, dass etwas technisch möglich ist, heute geht es um die Benutzung. Bei so viel Konkurrenz am Markt, können sich Software-Produkte - und das sind Apps - nur durch eine super einfache, komfortable Bedienung für die Nutzer unterscheiden. Und die Sensibilisierung auf den Nutzer vermittle ich in meinem Buch.

RS: Ich möchte ein Thema herausheben: “MVP - Minimum Viable Product“. Was ist das, was fasziniert daran und wie kann das ein Freiberufler für sein App-Projekt nutzen?

KS: Kennst Du das Wasserfallmodell der Software-Entwicklung? Ich karikiere es gern so: Jemand hat eine Idee, fragt ein paar Kumpels, wie sie das finden, dann sperrt sich ein Dev-Team mehrere Monate im Keller ein, entwickelt eine Monster-Applikation mit 1000 Features, kommt ans Tageslicht, wirft es in die Welt, 3 Leute interessieren sich dafür, wollen es benutzen und scheitern an der Erledigung der ersten Aufgabe. Die App wird gelöscht, das war’s.

Genau das ist der alte Ansatz. Das hat früher funktioniert, weil nicht jeder eine App auf den Markt werfen konnte. Früher war Software ein Geheimnis, etwas, das nur von Spezialisten umgesetzt werden konnte und das die Anwender lernen mussten. Du kennst sicher diverse Kurse und Zertifikate von Microsoft. Heute ist Software wie Kekse, jeder kann sie machen. Um aber zu prüfen, ob der eigene Ansatz sinnvoll oder für die Tonne ist, gibt es die Möglichkeit, ein schlankes, auf den Kernnutzen fokussiertes Produkt oder eine Produktattrappe zu entwickeln.

In meinem Buch schreibe ich über das Dropbox MVP. Die Gründer hatten nicht eine Zeile Code, sondern ein zusammengeschnipseltes Video davon wie man Dropbox benutzen würde. Es funktionierte nicht mal! Dieses Video haben sie an ihre Freunde geschickt und hatten überwältigende Resonanz für die Produktidee. Dann haben sie beschlossen, es zu entwickeln. Das war eine Produktattrappe. Eine schlanke Version eines Produkts fokussierte sich auf das Kernfeature und konfrontiert dieses so schnell wie möglich mit Endnutzern, Early-Adopters. Doch das heißt nicht, dass das MVP hingerotzt aussehen darf! Es ist schlank, ganz schlank, aber natürlich super bedienbar.

Buchcover: Apps machen

RS: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Hanser-Verlag und wie war die Zusammenarbeit?

KS: Das war wirklich eine verrückte Situation! Ich hielt Ende 2014 das Buch “Thank God it’s Monday” in den Händen und dachte “Rrrrrrr, ich will AUCH ein Buch schreiben, verdammt!”. Offenbar wurde das erhört, denn ca. zwei Wochen später schickte mir eine Lektorin vom Hanser Verlag eine Email mit dem Betreff: “Wollen Sie ein Buch über Apps schreiben?”. Ich dachte, es wäre ein Scherz, aber es war ernst. Wir telefonierten, sie meinte, sie hätte mich im Web gefunden und hatte das Gefühl, sie müsse unbedingt mit mir sprechen. Ab da ging alles ganz leicht. Das war toll.

“Und dann merkten wir, dass erstens kaum jemand ein Smartphone hatte und zweitens die Idee nicht skalierbar war.”

RS: Wie bist Du zum Appdesign gekommen?

KS: 2009 rief mich ein Freund an und fragte, ob ich mit ihm was mit Apps machen würde. Das war zwei Jahre nachdem das erste iPhone rauskam und ich glaube, gerade war der App Store gelauncht. Also alles ganz frisch. Ich hatte weder ein iPhone, noch wusste ich, was Apps sein sollen, aber natürlich sagte ich “Klar!” Wir gründeten zu Dritt unser Start Up mit dem Namen Storytude. Begehbare Geschichten in der Stadt an markanten Orten. Und die Entwicklung unserer Apps - für iOS und Android - war eine Odyssee! Wir haben alle Fehler gemacht, die man nur machen konnte. Wir drehten Schleifen, es war kräftezehrend. Und irgendwann hatten wir es geschafft, unsere beiden Apps in die Stores zu bringen. Wow. Es gab einen ganz schönen Medienrummel, wir waren im ZDF, in diversen Zeitungen etc. und dann merkten wir, dass erstens kaum jemand ein Smartphone hatte und zweitens die Idee nicht skalierbar war. Content zu produzieren war ziemlich teuer. Und dann wurden wir eine App-Agentur. Da habe ich sehr nah mit dem Dev-Team gearbeitet und jede Menge gelernt. Eine App zu erstellen, ist sehr anspruchsvoll und geht am besten, wenn die Konzeption rund ist. Sonst ärgern sich die Devs tierisch und pflaumen einen zurecht an.

RS: Dein Schwerpunkt liegt auf konzeptionelles Appdesign. Was erwartet ein Kunde von Dir?

KS: Ich habe sehr sehr oft die Erfahrung gemacht, dass Kunden hier in Deutschland erst einmal jemanden suchen, der etwas fertig Programmiertes “schön macht”, ihnen fällt relativ spät auf, dass nur Funktionalität irgendwie nicht rockt. Rrrrr! Wenn ich anfange über die Screens nachzudenken und mir in der Benutzung Fehler auffallen, sind die Kunden entsetzt und gehen unterschiedlich damit um. Manche sind dankbar, weil ihnen klar wird, dass sie keine runde Konzeption haben, dass sie die einfach übersprungen haben, und jetzt merken: “Achso, deshalb dreht die Entwicklung so viele Schleifen und ist so teuer.”

Dann gibt es die Kunden, die denken, Konzeption ist herausgeworfenes Geld. Tja, da kann ich nichts tun. Selbst wenn ich es erkläre, haben sie nicht die Bereitschaft, es sich richtig zu überlegen. Sie denken, Nutzer sind dankbar für diese nächste App im Store. Sie verstehen die heutige Zeit nicht. Das ist für mich so wie, als würde ich behaupten, der Bauplan für ein Haus mit der Aufteilung der Räume, der Anordnung der Fenster ist rausgeworfenes Geld und die Bauarbeiter sollen entscheiden, wo Türen und wie groß Räume sind. Die meisten Kunden haben allerdings eine eigene App-Idee und wollen kein Fertighaus - da wäre es ja klar, man nimmt ein Muster und alles ist entschieden. Doch Apps sind keine Standard-Produkte in diesem Sinne. Ich bin App-Architektin.

“Bis auf die Autohersteller haben es die wenigstens verstanden, was ein technisches Produkt attraktiv macht.”

RS: Welche Art von Kunden sprechen Dich an und wie sieht Deine Arbeit in den Projekten in der Regel aus?

KS: Es sind häufig Start-Ups und gestandene Firmen. Meist haben sie schon die Entwickler zur Hand und haben bemerkt, dass ihnen jemand fehlt, der die Screens durchdenkt. Oder es gibt gar keine Screens. Oder die Entwickler-Agentur merkt, huch, wir wissen gar nicht wie die App aussehen soll.

Mit Entwicklern arbeite ich sehr gern, denn es ist ein Verhältnis mit gegenseitigem Respekt und wir alle wollen für den Kunden ein tolles Produkt erschaffen. Am schwierigsten sind die Kunden selbst, denen es häufig an Digitalkunde, he he, mangelt. Deutschland ist mitunter so hinterm Mond im Verständnis dessen, was aus den USA zu uns rüberschwappt. Deutschland ist immer noch Industrie und stellt den Nutzer hinten an. Bis auf die Autohersteller haben es die wenigstens wirklich verstanden, was ein technisches Produkt attraktiv macht.

RS: Gibt ein Kunden-Projekt, das besonders spannend und herausfordernd für Dich war?

KS: Super Frage. Ehrlich gesagt, ist der Kunde selbst die größte Herausforderung. Es ist immer möglich, eine Idee sichtbar zu machen, ihr eine Form zu geben, sie in etwas Benutzbares zu transformieren. Die Herausforderung ist der Kunde und sein Verständnis, seine Dynamik in seinem Team. Es kommt ganz oft vor, dass ich Team-Coaching mache und erst einmal die Menschen zu dem Projekt hineinhole, damit es keine Sabotage gibt. DAS ist anstrengend, macht Spaß, hat aber nicht direkt mit der App zu tun. Und im Ganzen hat es natürlich mit der App zu tun, denn ich finde, nur ein gutes, geschmeidiges Team kann ein tolles Produkt herausbringen. App-Konzeption ist also mitunter richtiges Coaching.

RS: Welche Tools bevorzugst Du für das Prototyping und warum?

KS: Ich habe eine Zeit lang sehr gern InVision genutzt, weil es mit Sketch sehr einfach und smooth funktioniert und man sehr schnell Dinge visualisieren kann. Jetzt gehe ich Richtung Framer, da ich merke, dass eine lebendigere und noch realistischere Konzeption noch bessere Entscheidungen erlaubt. Ich versuche so viel wie möglich im Prototyping abzudecken, weil es das ganze Projekt klarer macht. Prototyping ist genial! Es hält das Team zusammen, es gibt eine Motivation, alle können an das Projekt glauben und Designer und Entwickler sprechen im Prototyp dieselbe Sprache.

RS: Was denkst Du über die Zukunft der Appentwicklung und den Alltagsgebrauch von Apps?

KS: Solange es Bildschirme gibt, gibt es Apps. Ich denke, dass sehr viel Software noch vereinfacht wird. Ich denke auch, daß wir in Zeiten leben, in denen die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer, Interaktionen immer schneller und die Integration in den Alltag immer unauffälliger wird. Das wird Apps immer feiner und fokussierter machen.

Ich denke, Vieles wird über Sprachsteuerung abgedeckt - da verlassen wir den Screen - aber ich glaube auch, dass die Wahrnehmung über die Augen immer dableibt. Sehen und Anfassen ist doch etwas anderes als alles über Sprache zu regeln. Alexa wird kaum eine ganze Suchergebnis-Liste vorlesen und wir wählen dann was aus. Wir können uns ja heutzutage kaum noch Dinge merken! Ich könnte mir noch vorstellen, dass unser Alltag von Sensoren durchtränkt sein wird, wir alles über unseren Körper regeln und wenn es dann einen Notfall gibt, müssen wir wieder Entscheidungen auf Screenebene treffen, weil uns der Notfall visualisiert wird. Wie im Film “Passengers”. Das Schiff reagiert die ganze Zeit auf die Präsenz des Menschen, aber wenn das Schiff Probleme hat, muss der Mensch die Stelle sehen können. Da sind Screens oder Netzhautprojektionen schneller, einfacher, direkter als Sprache.

RS: Zuguterletzt: Was sind zur Zeit Deine drei Top-Links zu Artikeln, Services oder was Dir gefällt?

KS: Auf Twitter ist sehr viel los. In UX und Design tut sich sehr viel, das meiste natürlich auf Englisch. Ich liebe Product Hunt und ja, auf InVision sind super interessante Artikel zu neuen Arbeitsweisen.

Neue Arbeitsweisen finde ich sehr spannend und beobachte gern, wie die alten Strukturen bröckeln. Was vielen Angst macht, verstehe ich. Daher ist mein nächstes Projekt eine Artikelreihe, die das Riesenwort “Digitalisierung” auseinander nimmt und beleuchtet, was das wirklich wirklich für uns bedeutet. Der erste Artikel heißt: “Ist die Angst vor Digitalisierung berechtigt?” und spricht die Generation 50+ an, die sich sehr viel in der alten Welt aufgebaut hat und nun feststellen muss, dass die Digitalisierung ihre funktionierenden Modelle hinterfragt. Das Hinterfragen hat was mit Lebensbilanz zu tun und das ist ein sehr sensibles Thema. Sehr spannend!

RS: Vielen Dank für das ebenso spannende Interview.

Über Karolina Schilling

Karolina Schilling ist Dipl.-Ing. für Medientechnik (FH) und arbeitet freiberuflich als Designer, Coach und Autorin in Berlin. Sie firmiert unter muppetti AppDesign und gibt Workshops zum Thema „Mobile App Design und Konzeption“. Ihre Tools sind Sketch 4, Zeplin, inVision, AppCooker und Framer.

\\\ Update: 05.12.2023   Angelegt: 28.11.2017   Rubrik: Grafik- & Webdesign   Views: 230   

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